top

Opera Mortale

Eine Leiche wider Willen

Eben noch flatterte die Gesellschaft im Erregungszustand eines Opernabends umher, um die Premiere der „Carmen” zu feiern. Sie alle, Mitglieder des Orchesters, der Chor, Solisten, Mäzene und Presseleute blicken in hungriger Erwartung auf das nun folgende 4-Gang-Dinner von Maître Anatol. Da plötzlich: eine Leiche!

Ein tödlicher Zwischenfall hat vor den Augen aller einen der Anwesenden gewaltsam zu Boden gerissen. Eine Ärztin eilt herbei sowie ein Chemiker, der mit Haushaltsmitteln eine blitzschnelle Analyse der Todesursache vornimmt. Dass Intrigen und Animositäten seit jeher zum Alltag an der Oper gehören, ist kein Geheimnis. Doch was wirklich hinter den Kulissen passiert, erfährt die feine Gesellschaft, als mit einiger Verspätung eine Garderobiere auftaucht.

Gäste in diesem Mordfall wissen noch einiges mehr dazu

Sie haben den bisherigen Abend in der Oper verbracht und bei der Premiere der „Carmen” mitgewirkt. Da Sie zu den Solisten gehören, nehmen Sie selbstverständlich auch an der nun stattfindenden Premierenfeier teil.

Sie heißen Jack Russell, sind Tenor und singen in der „Carmen” die Hauptrolle des Sergeanten „Don José”. Allerdings nur in der Zweitbesetzung. Denn die Erstbesetzung hat ‐ wie schon viele Male zuvor ‐ der spanische Startenor José Obscura bekommen. Obwohl Sie sich für das eigentliche Highlight in der Aufführung halten. Denn den klareren Stimmansatz haben eindeutig Sie. Doch José schafft es immer wieder, sich bei den großartigen Rollen vorzudrängeln. Aber keiner traut sich, etwas gegen Herrn Obscura zu sagen. Mit Ausnahme der Diva Magnetha Pelati. Bei ihr finden Sie nicht nur ein offenes Ohren für diesen ständigen Schmach, sondern auch eine Gleichgesinnte, mit der man bei einem Gläschen Rotwein ordentlich über diesen blasierten Spanier herziehen kann.

Sie haben den bisherigen Abend in der Oper verbracht und bei der Premiere der „Carmen” mitgewirkt. Da Sie zu den Hauptakteurengehören, nehmen Sie selbstverständlich auch an der nun stattfindenden Premierenfeier teil.

Sie heißen Jean­Baptist Lureau und haben die „Carmen” für die Tolle Oper in Szene gesetzt. Da Sie ein Anhänger der Werkstreue sind, war es Ihr größtes Anliegen, die Aufführung so historisch wie möglich zu anzulegen. Alle haben mit Eifer und Lust mitgemacht, dass die Stadt Sevilla, in der die Handlung spielt, tatsächlich so aussieht wie im Jahre 1820. Bloß mit einem Künstler gab es ständig Querelen: Christian von Boysenberry, Dirigent und musikalischer Leiter. Nichts gegen dessen wahnwitzige Leidenschaft für Richard Wagner. Aber Boysenberry hatte doch allen Ernstes vor, die Flamencoszenen mit kraftvollem Einsatz von Trompeten und Hörnern zu verstärken! Sie waren einige Male kurz davor, das Handtuch zu schmeißen. Wären da nicht die vielen Zusprüche seitens der Musiker gewesen, die diese Idee ebenfalls für äußerst grotesk hielten.

Sie haben heute Abend die Opernpremiere der „Carmen” musikalisch begleitet. Als Mitglied des Orchesters sind Sie von Ihrem Dirigenten Christian von Boysenberry zur nun anschließenden Premierenfeier eingeladen

Ihr Name ist Lina Ventura. Sie sind Cellistin und wohnen allein in einer Zweizimmerwohnung in Berlin Pankow. Halt, nicht ganz allein: denn seit drei Monaten haben Sie ein Haustier. Er heißt Parzival und ist ein ausgewachsener Gecko, den Sie in Ihrem letzten Griechenlandurlaub halbtot von der Straße aufge‐ sammelt haben. Er hat Ihre aufopferungsvolle Pflege dankbar entgegen genommen und weicht seither nicht mehr von Ihrer Seite. Parzival ist Ihr Maskottchen geworden und die einzigen Momente, in denen er nicht bei Ihnen sein kann, sind während der Aufführungen. Also verstecken Sie ihn immer in Ihrer Garderobe. Dort hat er auch immer geduldig auf Sie gewartet. Bis auf heute Abend. Als Sie in der ersten Pause nach ihm schauen wollten, war er verschwunden. Sie haben dann auch in der zweiten Pause überall nach ihm gesucht ‐ und endlich in Ihrem Cellokasten wieder gefunden. Allerdings hat er dort ein äußerst unmusikalisches Souvenir hinterlassen.

Sie haben heute Abend die Opernpremiere der „Carmen” musikalisch begleitet. Als Mitglied des Orchesters sind Sie von Ihrem Dirigenten Christian von Boysenberry zur nun anschließenden Premierenfeier eingeladen.

Sie heißen Wenke Weyher und sind eine der vier Klarinetten im Orchester. Die klassische Musik ist für Sie Religion. Jede Aufführung ein Gottesdienst.

In beinahe kultischer Manie sammeln Sie höchst wert‐ volle Musikalien. Vor kurzem haben Sie Ihre Sammlung um ein äußerst kostspieliges Exemplar bereichern können, dass Ihnen Ihr Dirigent Christian von Boysenberry angeboten hat: den Taktstock von Herbert von Karajan! Wenn auch zerbrochen, so war es doch der letzte, mit dem der berühmte Maestro dirigierte. Den mussten Sie natürlich unbedingt haben. Und so waren Sie auch kein bisschen zimperlich, Herrn von Boysenberry dafür sage und schreibe 18.000 €uro zu bezahlen! In bar! Schon merkwürdig, dass sich Boysenberry von diesem Stück getrennt hat, das für ihn selbst so heilig war!